Thwaites-Gletscher: Rätseln um die Eis-Apokalypse
Einer der gefährlichsten Gletscher der Welt könnte sich schon bald unerwartet schnell zurückziehen – und niemand weiß, wie weit. Untersuchungen des Meeresbodens im Vorfeld des rund 100 Kilometer breiten Thwaites-Gletschers in der Antarktis deuten darauf hin, dass der Eisstrom vor nicht allzu langer Zeit fast dreimal so schnell verfiel wie derzeit, berichtet ein Team um Alastair G.C. Graham von der University of South Florida. Das zeigt eine Serie von untermeerischen Rippen, die das überraschend rasche Zurückweichen des Gletschers auf den Tag genau dokumentieren, wie die Arbeitsgruppe in einer Veröffentlichung in »Nature Geoscience« schreibt.
Insbesondere stammen die Spuren wohl von einer ganz ähnlichen Situation, wie man sie jetzt an der Vorderkante des Gletschers vorfindet. Die Spuren sind vermutlich höchstens rund 200 Jahre alt und stammen von einem untermeerischen Hügel. Dieser stabilisierte – genau wie heute – die Gletscherfront. Bis er es nicht mehr tat und sich der Gletscher immer schneller zurückzuziehen begann. Sollte der Thwaites-Gletscher heute den Kontakt mit seiner stützenden Anhöhe verlieren, dürfte er einen ähnlichen Schub erleben, schließen die Fachleute. Niemand weiß, wann und wie so ein Schub enden würde.
Der Thwaites-Gletscher gilt als einer der entscheidenden Schauplätze des Klimawandels. Nicht nur ist er groß genug, um mit dem enthaltenen Wasser den Meeresspiegel um 65 Zentimeter steigen zu lassen. Der Gletscher gilt auch als Schlüssel zum Schicksal des Westantarktisches Eisschilds. Zerfällt er, könnten die Eismassen der ganzen Region folgen, als hätte jemand einen Stöpsel gezogen – und das womöglich ziemlich rapide. Das Problem ist, dass der Thwaites-Gletscher ebenso wie der gesamte Westantarktische Eisschild in einer kilometertiefen Schüssel liegt, die sich vom jetzigen Eisrand Richtung Landesinnere eintieft. Diese eigenwillige Landform unter dem Eis nährt apokalyptische Szenarien.
Wie schnell kollabiert der Thwaites-Gletscher?
Eine mögliche Ursache ist ein Mechanismus namens »marine ice-cliff instability«. Die Grundidee dabei ist, dass die Front des Gletschers immer höher wird, je weiter er sich in die Schüssel zurückzieht. Irgendwann ist die Eisklippe so hoch, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbricht. Dadurch erzeugt sie aber eine noch höhere Eisklippe, weil der Boden zum Landesinneren abfällt. Diese Klippe zerfällt noch schneller, und so weiter, bis große Teile des Eises in der nun wassergefüllten Schüssel schwimmen – und den Meeresspiegel binnen kurzer Zeit um mehrere Meter erhöhen.
Es ist allerdings ziemlich umstritten, ob derartige Szenarien tatsächlich eintreten, und vor allem, wie schnell das passieren könnte. Doch es gibt eine Reihe weiterer beunruhigender Anzeichen dafür, dass der Thwaites-Gletscher sich nur noch »mit den Fingernägeln festkrallt«, wie es der Mitautor Robert Larter vom British Antarctic Survey gegenüber CNN formulierte. Der Eisschelf, jene schwimmende Eismasse, die dem eigentlichen Gletscher vorgelagert ist und den Strom mit seinem schieren Gewicht zurückstaut, ist von Rissen durchzogen. Einige Prognosen sehen es innerhalb der nächsten Jahre weitgehend zerfallen, mit der wahrscheinlichen Folge, dass Thwaites noch schneller Eis verlieren würde. Und der Gletscher schrumpft jetzt schon rapider als die meisten anderen in der Antarktis.
Studien haben mehrere konkrete Faktoren identifiziert, die Gletscher und Schelf zusetzen. Relativ warmes Wasser taut das schwimmende Eis von unten an. Und laut Untersuchungen geschieht das wohl auch mit dem Gletscher selbst, unter dem durch die Gezeiten ebenfalls warmes, salziges Meerwasser vordringt. Was das wirklich bedeutet, weiß niemand: ob wirklich ein rascher Kollaps droht oder ob der Gletscher und die dahinter liegende Eiskappe so massiv sind, dass sie selbst im Klimawandel noch Jahrhunderte bestehen werden. Die neue Studie nährt allerdings eher die Sorge, dass der Gletscher deutlich dynamischer ist, als man ihm zutraut – und die pessimistischen Szenarien samt verheerendem Meeresspiegelanstieg näher an der Wahrheit sein könnten.
Die Arbeitsgruppe um Graham kartierte mit einer Unterwasserdrohne den Meeresboden vor dem Gletscher und fand dort auf einer als »The Bump« bezeichneten, etwa 200 Meter hohen Anhöhe bemerkenswerte, bisher unbekannte Strukturen. Hunderte parallele, meist weniger als 20 Zentimeter hohe Rippen überziehen den Meeresboden in Abständen von im Mittel etwa sieben Metern. Sie entstanden einst entlang der Linie, an der die Gletscherfront auf dem Meeresboden lag – der Aufsetzlinie. Doch die Kante des Gletschers liegt nicht still. Durch Ebbe und Flut hebt sich das Eis vom Meeresboden und setzt wieder auf. Und dabei, so die Fachleute, entstanden die Rippen.
Was die Rippen am Meeresgrund verraten
Mehrere Merkmale sprechen dafür – unter anderem schwanken ihre Höhen zyklisch etwa alle 14 Rippen, was zum in der Region typischen Gezeitenzyklus von je einem Hoch- und Niedrigwasser pro Tag sowie besonders hohen und niedrigen Gezeiten alle 14 Tage passe, wie die Arbeitsgruppe schreibt. Dass die Rippen in so regelmäßigen Abständen entstanden, führt das Team darauf zurück, dass die Sohle des Gletschers bei jedem Hochwasser durch das eindringende wärmere Meerwasser abschmolz. Dadurch verschob sich die Aufsetzlinie pro Tag um etwa zwei bis zehn Meter landwärts.
Anhand einer besonders lang gestreckten Serie von 164 täglichen Rippen stellte die Arbeitsgruppe fest, dass sich der Gletscher in diesen fünfeinhalb Monaten nicht nur deutlich schneller zurückzog als heutige Gletscher in der Region, sondern dass sich der Prozess im Lauf der Zeit auch beschleunigte. Zu Beginn der Serie wich der Gletscher mit 2,12 Kilometern pro Jahr zurück, am Ende waren es 2,3 Kilometer pro Jahr. Das ist ungefähr dreimal so schnell, wie die Aufsetzlinie des Thwaites-Gletschers derzeit zurückweicht, und rund 15 Prozent schneller als die zurzeit am schnellsten zurückweichenden Gletscher in der Region. Nicht zuletzt zeigen Studien, dass es sogar noch viel schneller gehen kann. So wich der Pope-Gletscher 2017 über einen Zeitraum von vier Monaten vier Kilometer zurück.
Wann die Rippen genau entstanden, ist unklar, aber sie sind jung. Je nachdem, welche Rate man für den Rückzug des Gletschers annimmt, entstanden sie wohl irgendwann zwischen 1800 und 1960. Damit ähnelten die Bedingungen bei ihrer Entstehung denen im heutigen Ozean – und der Buckel, auf dem die Rippen eingeprägt sind, unterscheidet sich kaum von jener Anhöhe, an der die Aufsetzlinie des Gletschers heute verankert ist.
Die Spuren auf dem »Bump« lassen nach Ansicht der Arbeitsgruppe wenig Zweifel daran, dass der Thwaites-Gletscher sich binnen kurzer Zeit sehr viel schneller zurückziehen kann, wenn er den Kontakt mit den höchsten Punkten unter der Aufsetzlinie verliert. Wie schnell tatsächlich, ist unbekannt. Und niemand weiß, ob der Prozess einfach wieder am nächsten Buckel rund 35 Kilometer weiter stoppt – oder ob er diesmal, womöglich angetrieben durch die Auswirkungen des Klimawandels im Südozean, nicht mehr aufzuhalten ist.
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